Dr. Stephan Gutschow
Dr. Stephan Gutschow - Foto: Gutschow

Funktionelle Prothetik unter Berücksichtigung ganzkörperlicher Zusammenhänge

20. Juli 2023

Dr. Stephan Gutschow, Potsdam

Abstract

Aufgrund der anatomischen und physiologischen, insbesondere neurophysiologischen, Zusammenhänge, die das Kiefergelenk mit seinen muskulären Strukturen aufweist, können sich Beeinträchtigungen auf den gesamten Bewegungsapparat sowie möglicherweise auch auf organische Bereiche auswirken. Nicht immer können wir bei vorhanden Beschwerden von einem krankhaften Zustand ausgehen, sondern manchmal liegen „nur“ Funktionsstörungen vor. Es handelt sich also nicht in jedem Fall um klinische Pathologien, die andere Fachbereiche betreffen; trotzdem jedoch treten Beschwerden auf, die mit der Bisslage in Verbindung gebracht werden. Aufgrund dieser Komplexität ist es in vielen Situation unumgänglich, interdisziplinär zu arbeiten.
Die Okklusalverhältnisse wirken sich immer auf den gesamten Stütz- und Bewegungsapparat aus. Allerdings nicht immer mit merklichen Beschwerden im stomatognathen System. Oftmals finden wir kompensierte Zwangsbisslagen, die zu Fernwirkungen im Bewegungsapparat führen. Allein im Bewegungsapparat können die Folgen komplex sein. Primär treten muskuläre Beschwerden auf oder funktionelle Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule, des Beckens und der Extremitäten; z. B. Schulter-Nacken-Verspannungen, Fehlstellungen einzelner Segmente oder Abschnitte der Wirbelsäule sowie Probleme im Becken. Begründet ist dies im anatomisch bedingten Zusammenhang zwischen dem Kiefergelenk und den vier oberen Zervikalsegmenten und deren gemeinsamen neurophysiologischer Verschaltung im Thalamus.
Propriozeptiv ist die Region des Kiefergelenks und der angrenzenden Weichteile der sensibelste Bereich im Körper. Wir finden in der craniomandibulären Region die größte propriozeptive Dichte im menschlichen Körper überhaupt. Die Propriozeptoren nehmen Informationen über Muskelspannung, Gelenkstellung und Bewegung auf und leiten sie an das zentrale Nervensystem weiter. Das sensible System reagiert bei Veränderungen sofort auf muskulärer Ebene. Weitere Besonderheit ist, dass das Kiefergelenk in seinem Gelenkanschlag von der Okklusion der Zähne abhängig ist. Das bedeutet, ein Hartgewebekontakt bestimmt die Gelenkstellung. Ändert sich die Interkuspidation, verändern sich die Afferenzen der Gelenkrezeptoren bzw. die daraus resultierende neurophysiologische Informationsverarbeitung. Das bedeutet, dass primär nur die Okklusalverhältnisse nachhaltig auf die Kiefergelenkstellung einwirken können, und nicht der Osteopath oder Manualmediziner.